© Texte und Fotografien: Robert Jaroslawski 2023
Essay Nr. 2 “Über den Tod”
Vorbemerkung des Editors: Es entsprach dem Verfasser, Jan Jaroslawski, über große Themen konkret nachzudenken, ja nachzusinnen, anhand der eigenen Erfahrung oder des Erfahrens und Reflektierens eigener Befindlichkeit. Daher ist hier die Grenze zwischen einem Essay und einer Form der Selbst-Reflexion sicherlich nicht scharf zu ziehen… dennoch sehe ich hier Allgemeingültiges, weit entfernt von einer Notiz einer bloßen Stimmung. Und so habe ich mich entschlossen, diese Facette von J. J. relativ früh mit einzuschließen.
Robert Jaroslawski, 3.04.2023
Über den Tod
18.11.1992
Wetter draußen vor dem Fenster ist hundsmäßig, aber ganz im Zeichen des Tages: Es ist „Buß- und Bettag“. Damit will ich sagen, dass die äußeren Bedingungen die innere Besinnung, das Nachdenken über das Leben anderer (nicht mehr lebender) Menschen und das eigene Leben nicht behindern, sie lenken nicht von traurigen, vielleicht schmerzhaften und auf jeden Fall keineswegs leichten Dingen ab. Ich bin nicht einmal spazieren gegangen und habe mich entschieden, Brahms‘ „Ein Deutsches Requiem“ zu hören. Ich gestehe, dass ich eine besondere Schwäche für diese Komposition habe: Sie ist, wie bei Brahms üblich, würdevoll in ihrer Feierlichkeit und gleichzeitig voller Resignation, die aus der Reife resultiert; ohne Pathos, aber beruhigend in ihrer elegischen Qualität. Wahrscheinlich geht es darum, dass ich an meinen eigenen Tod im Sinne dieser Musik denke – ohne Angst, und sogar, wie ich merke, mit einer wachsenden spirituellen Bereitschaft, den Styx zu überqueren. Was mir in Erinnerung geblieben ist, ist der unglaubliche innere Monolog, den Virgil in der letzten Nacht seines Lebens in Brindisi zu sich selbst sprach. Es ist wahrscheinlich der einzige Monolog dieser Art, den die Weltliteratur kennt, und allein dieser Text reicht aus, um Hermann Brochs Werk, „Der Tod des Vergil“, in die Reihe unsterblicher Leistungen des menschlichen Geistes eingehen zu lassen.
Und ich schreibe darüber, weil ich dort die gleiche Einstellung gefunden habe, die ich auch in mir selbst in einer mehr und mehr ausgeformten und bewussten Form finde. Der Tod hat mich die meiste Zeit meines Lebens nicht beschäftigt. Meine ersten toten Menschen habe ich wahrscheinlich im Alter von 10 Jahren gesehen. Es war während meines Aufenthalts in einer Sommerfrische in der Nähe von Lodz. Zu dieser Zeit verbreitete sich die Nachricht, dass sich jemand in jenem Wald, den ich oft besuchte, erschossen hatte. Es stellte sich heraus, dass dort zwei Leichen von jungen Leuten lagen, bedeckt mit Zeitungen; ein Mann und eine Frau – sie hatten wohl Selbstmord begangen. Was der Grund dafür war, konnte ich nicht herausfinden, aber der Eindruck war so niederschmetternd, dass mir der Vorfall bis heute lebhaft in Erinnerung geblieben ist – und er war für mich tatsächlich die Initiation in diese große Frage des Lebens, nämlich den Tod.
Es kam so, dass ich erst mit vielen Monaten Verspätung vom Tode meines Vaters und meiner Schwester erfuhr; bis heute weiß ich nicht, wo sie beide gestorben sind, da sie den Krieg jedenfalls nicht überlebt haben.[1] Ich hatte also nicht die Möglichkeit, ihren Tod direkt mitzuerleben, ich weiß von ihrem Tod vom Hörensagen, und das ist etwas ganz anderes, als dabei zu sein... Ich weiß sehr wohl, dass der Gedanke an den unausweichlichen Tod meiner Mutter, – die bereits in ihr 89. Lebensjahr eingetreten ist und sich, (Gott sei Dank!) überraschend gut hält –, mich wörtlich des Schlafes beraubt und ersterben lässt.
Es ist überflüssig, hier darüber zu sprechen, dass ich während des Krieges auf Schritt und Tritt mit dem Tod konfrontiert war, jeden Tag. Und doch machte dieser Tod (von Menschen, die ich nicht näher kannte) buchstäblich keinen Eindruck auf mich. Schon damals fragte ich mich, warum ich so auf den sich um mich herum ausbreitenden Tod reagierte, erinnerte ich mich doch, wie groß der Eindruck des Todes war, mit dem ich damals in den Sommerferien im Wald konfrontiert wurde. Ich sah in dieser Reaktion keineswegs Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Schicksal, ein versteinertes Herz. Nichts dergleichen! Ich wusste schon damals, dass dies an der Anonymität dieses Todes lag, an seiner Anonymität und seinem Massencharakter zugleich. Der Tod eines Individuums ist absolut ausreichend für uns, um zu verstehen, was der Tod ist, und zwar in seiner häufigsten, also auch in seiner massenhaften Erscheinungsform. Aber im Gegensatz hierzu ist kein Massentod in der Lage, uns dem Phänomen des Todes wirklich näher zu bringen. Den Massentod sind wir nur in der Lage, verstandesmäßig wahrzunehmen, unsere Fähigkeit, ihn in einem tieferen Sinne zu spüren, wird durch die Massivität des Phänomens abgestumpft oder langsam abgetötet. Dies ist die psychologische Wahrheit. Nach dem Krieg habe ich in diesem Zusammenhang auch verstanden, dass die Grundprinzipien der Tragödie ebenfalls verlangen, dass diese Art des Fühlens voll respektiert wird, wenn sie ihren wesentlichsten Zweck – die Katharsis – erfüllen soll.
Ich finde es schwer zu glauben, dass es Menschen gibt, die das Schicksal eines Individuums (auch eines fiktiven, wie im Roman) und, sagen wir, einer Nation, als austauschbar empfinden können. Die größten Unglücke, die einige größere oder kleinere Gemeinschaften durchmachen oder durchgemacht haben, sind nur dann in der Lage, tiefe Leidenschaften hervorzurufen, d.h. Schmerz, Liebe, Mitgefühl oder sogar Hass, wenn wir in irgendeiner Weise mit den einzelnen Menschen dieser Gemeinschaft verbunden sind, wenn das Schicksal eben dieser Menschen in gewisser Weise unser Schicksal wird. Alles andere ist nahezu eine reine Angelegenheit des Intellekts, eine aus Reflexion oder rationaler Ethik entspringender Wahl. Selbst diejenigen, die professionell die Erinnerung an den Holocaust pflegen, haben das verstanden und irgendwann einen Film darüber gedreht, der auf dem Konstrukt einer Familiensaga (der Fam. Weiß) basiert. Leider gab es dabei mehr Verständnis für das Strukturprinzip der Tragödie als künstlerische Meisterschaft. Aber das lag wohl daran, dass der Film einem bestimmten Zweck „dienen“ sollte... Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand Einwände gegen einen solchen Zweck erhebt, aber man kann die Meisterwerke der Kunst, deren Entstehung monokausal mit solchen Motiven verbunden ist, an den Fingern abzählen.
Aber ich hatte nicht die Absicht, über Kunstwerke und die Gründe für ihre Entstehung zu schreiben! Brahms‘ Requiem beginnt mit dem Teil: „Selig sind, die da Leid tragen“, und endet mit dem Teil: „Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben“. Es sei daran erinnert, dass der (erste) Impuls, dieses Werk zu schreiben, in Brahms aufkam, als er erfuhr, dass Schumann einen Selbstmordversuch im Rhein unternommen hatte. Er wurde dabei wohl von verkleideten Teilnehmern des Karnevals herausgefischt, die ihn dann nach Hause eskortierten, was nolens volens den Charakter einer burlesken Clownerei angenommen haben muss. Während ich dies schreibe, läuft es mir kalt den Rücken herunter wegen der unglaublichen und obszönen Zweideutigkeit dieses Vorfalls. Brahms verwendet hier, im zweiten Satz („Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“), den ich am bewegendsten finde, den im 3/4-Takt gehaltenen Marschrhythmus, der von Schumann mehr als einmal verwendet wurde. Aber es ist wahr, dass erst der Tod seiner Mutter, die er innig liebte, ihn veranlasste, dieses unsterbliche Stück zu schreiben. Ich kann mir leicht vorstellen, dass meine letzten bewussten Momente von dieser Musik begleitet werden, und zwar nicht wegen ihres (beabsichtigten) tröstlichen Charakters, sondern allein wegen ihrer erhabenen Schönheit.
[1] Er scheint später eine gewisse Klarheit über das Sterben seines Vaters und seiner Schwester erlangt zu haben (meine Mutter – seine Frau, Halina Jaroslawska – hat unermüdlich Nachforschungen angestellt). Das heutige Bild ist, dass sein Vater sehr wahrscheinlich ziemlich bald nach seiner Ankunft in Auschwitz umkam; seine Schwester hingegen scheint in den letzten Wochen des Kriegs in einem Lager auf deutschem Gebiet, wohl Dachau oder Bergen-Belsen an Typhus gestorben zu sein – das Schicksaal vieler dorthin verbrachter Lagerinsassen aus aufgelösten Lagern auf polnischen Gebieten.
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